Kampehl, Brandenburg
Seine Leiche hat sich nicht zersetzt. Als Jugendlicher habe ich sie einmal gesehen und kann den Schock bis heute nicht vergessen, zumal es das erste Mal war, daß ich überhaupt einen Toten sah. Wenn Sie wirklich nach Untoten suchen, dann sollte, Sie hinaus in das kleine Dorf Kampehl fahren, etwa siebzig Kilometer nordwestlich von Berlin und sich diesen schaurigen Kadaver ansehen. Der hochgewachsene, unauffällig aussehende Mann hinter dem Tresen zapfte mein Bier zu Ende und kassierte. Etwas an einem Tonfall ließ mich den Entschluß fassen, dieser bizarren Geschichte nachzugehen. Beinahe sechs Monate später wurde ich in einen winzigen dunklen Raum geleitet, der der Kapelle von Kampehl angeschlossen war, wo ich eine Treppe hinabstieg und mich sodann vor einem mächtige, hölzernen Sarg wiederfand. Der Ritter ist nicht sehr groß, eine Hände scheinen zum Gebet gefaltet. Abgesehen von einem Tuch um die Lenden ist er unbekleidet, und es lassen sich umher noch Zähne, einige Haare auf dem Schädel und der Penis erkennen. Unter der dunklbraunen Schattierung seiner leder- nen Haut sind die Venen noch sichtbar. Auf einen derartigen Anblick war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich klammerte mich an den Seitewänden des Sarges fest. Die Wächterin der mumifizierten Leiche, eine alte Dame, die in einer schwach beleuchteten Ecke des Raumes saß, bemerkte meinen Zustand und begann mit äußerst langsamer aber klarer Stimme von dem Ritter zu sprechen.Sein Name war Christian Friedrich von Kahlbut, und er wurde im Jahre 1651 auf Schloß zu Kampehl geboren. Dieser kühne Ritter war über alle Maßen herrschsüchtig, ein von Frauen und seiner sexuellen Gier besessener Mann. Seine Frau schenkte ihm elf Kinder, aber soweit bekannt war, hatte er bei einheimischen Mädchen noch vierundvierzig weitere gezeugt. Eine seiner zahlreichen Grausamkeiten bestand darin, daß er häufig auf seinem Recht der ersten Nacht bestand und die frisch vermählten Frauen zum Beischlaf zwang. Einmal gierte er nach einem besonders hübschen Mädchen, einer Jungfrau namens Maria Leppin. Sie war einem jungen Schäfer aus dem Nachbardorf Bückwitz versprochen, den sie herzlich liebte. Von den Zudringlichkeiten des Ritters entsetzt, wagte sie, sich ihm zu widersetzen. Der in seinem Stolz gekränkte Ritter rächte sich an ihrem Verlobten: er erschlug ihn eines Nacht, auf einem Feld vor dem Dorf. Es gab keine Augenzeugen, doch jeder wußte, daß Kahlbutz der Täter war. Die untröstliche Maria klagte ihn vor versammeltem Dorf an und brachte ihn vor Gericht, doch der elende Wüstling mutzte die Macht seiner adligen Abstammung, der gerechten Strafe zu entkommen, und legte darüberhinaus den Schwur ab, daß, so er der Mörder sei, **der liebe Gott meinen Leichnam nicht verrotten lassen soll**. Im Jahre 1702 starb er. Erst im Jahre 1794, als die Kirche unter dem neuen Gutsherren restauriert wurde, öffneten die Arbeiter das Mausoleum der Familie Kahlbutz. Unter den zahlreichen Särgen fanden sie den, der den unbeschädigten Körper des Ritters enthielt. Er hatte sich mit seinem eigenen Fluch verurteilt, und seitdem heißt es, daß seine Seele niemals Ruhe fände. Nachdem ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, fragte ich die alte Dame, ob ich den Leichnam wohl photographieren dürfe. Mir das zu erlauben, sei sie nicht befugt, meinte sie und bezweifelte, daß es jemals jemandem gestattet worden war. Ich könne höchstens noch den Gemeindepfarrer fragen, der in Kürze zum Gottesdienst in der Kirche erscheinen würde. Der Geistliche war jünger, als ich erwartet hatte, und hörte - eine Bibel an die Brust gedrückt - meinen Erklärungen, warum ich diesen unseeligen Libertin photographieren wolle, genau zu. Die Verhandlungen dauerten lange an; erst nachdem ich ihm einige meiner früheren Bücher gezeigt hatte, willigte er in mein Vorhaben ein. Ich baute mein Stativ auf, und ganz langsam gewannen die skelettalen Züge des Kadavers im Objektiv an Schärfe. Ich fühlte mich ausgesprochen verletzlich. Die alte Dame erzählte mir weitere Legenden, die sich um dieses einzigartige Phänomen ranken. Man sagt, daß im Jahre 1806 einige Soldaten der einmarschierenden französischen Armee den Leichnam des Ritters gefunden und aus dem Sarg genommen hatten, um ihn an ein großes hölzernes Kreuz in der Kirche zu nageln. Als sie ihn jedoch hochheben wollten, schwang ein Arm in das Gesicht eines der Soldaten, so daß der Mann auf der Stelle einen Herzschlag erlitt. Zudem wird berichtet, daß um die Jahrhundertwende die jungen Männer des Dorfes die Mädchen zu erschrecken pflegten, indem sie mit dem Leichnam nach Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen zogen, und einmal wurde er sogar zur Hochzeitsnacht in das Bett eines frischvermählten Paares gelegt. Später war der Leichnam sichergestellt worden. Viele Jahre lang stand er aufrecht im Wartezimmer einer chirurgischen Arztpraxis im nahen Neustadt. Ich fragte die alte Dame, wieviele dieser Geschichten lediglich volkstümliche und religiöse Moritaten seien. Sie erwiderte lächelnd, man könne das nicht mit Bestimmtheit sagen. Sie wisse nur, daß im frühen zwanzigsten Jahrhundert zwei bedeutende und hochangesehene Pathologen, Virchow und Sauerbruch, eine gründliche Autopsie an der Leiche vorgenommen und keine Spuren von konservierenden Stoffen gefunden hatten; sie konnten keine wissenschaftliche Erklärung dafür liefern, warum der Leichnam sich nicht zersetzt hatte. Später suchte ich nach dem Schloß, auf dem der Ritter das Licht der Welt erblickt hatte, konnte aber keine Spur davon entdecken. Alles was ich sah, war das gruselig starrende Gesicht des dreihundert Jahre alten Kadavers, das kurz zuvor in meinem Objektiv erschienen war.
Quelle: "Geistersuche" von Simon Marsden